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Bettenhausen – ein Rückblick auf mein Zuhause für fünf Jahre
- Autor: Bernd Schaeffer
- Zeit: 1959
- Ort: Eichwaldstraße
- Vom: 29.07.2022
- Themen: Jugend- und Kindheitserinnerungen, Menschen erzählen
Im Sommer 2022 stöberte Sigrid B. im Internet und fand auf der Seite „Erinnerungen im Netz“ den Weg zurück zu einem spannenden Abschnitt ihres Lebens, die Jugendzeit. Ihr Zuhause war in der Zeit zwischen 1959 und 1964 eine Wohnung in einem Dreifamilienhaus in der Eichwaldstraße 89. Im Dialog mit einem Nachbarn aus dieser Zeit tauschte sie Erinnerungen und Erlebnisse aus und erneuerte ihren Blick auf die Zusammenhänge und Erfahrungen ihrer „Bettenhäuser-Zeit“. Im folgenden Beitrag präsentiert sie einen kurzen Ausschnitt aus ihren Lebenserinnerungen.
Geboren bin ich im Schwarzwald und habe die ersten sieben Jahre dort gelebt. Dann sind wir ins Schwäbische gezogen, insgesamt drei Orte. Zuletzt war es Leonberg. Alles klein und überschaubar.
1959 hat sich mein Papa bei der Zeitung "Kasseler Post" beworben. Damals war ich 15 Jahre alt. Dann hieß es: "ab nach Kassel"! Es war aufregend und spannend. Wie es wohl wird? Als Landei in einer Großstadt!
Unsere Wohnung war in Kassel-Bettenhausen. Sie war schön. Kohleöfen, wie ich es gewohnt war. Im Schlafzimmer von meiner Schwester und mir gab es noch ein extra Waschbecken mit kaltem Wasser. Was für ein Komfort! Nach hinten gerichtet gab es eine große Wiese mit Obstbäumen. Viel Natur für eine Stadt. Gegenüber war ein großer Wohnblock mit mehreren Häusern aus der Gründerzeit.
Der erste Kulturschock: Die Leute haben schriftdeutsch gesprochen. Unser Dialekt war ein Gemisch aus badisch/schwäbisch. Das wiederum fanden die Kasseler amüsant. Und so haben wir uns langsam eingelebt.
Schnell habe ich auch drei Freundinnen gefunden. Die Geschäfte, an die mich erinnern kann, waren der Konsum (Dorfplatz), ein Tiergeschäft (Zoo-Curth), ein Bestattungsinstitut (Kracheletz), einen Kiosk (Schade in der Pfarrstraße) auf dem Weg zur Straßenbahn, eine Eisdiele (Naschkätzchen) am Leipziger Platz, einen Tabakladen, ein Blumengeschäft, und einen Metzger (Dittmar). Nebenan von uns war ein städtischer Kindergarten.
Meine Mutter hatte mir mal einen Einkaufszettel in die Hand gedrückt, u.a. mit Trauben. Damals wurde man noch bedient (wie schön) und ich kam zurück mit 1 kg Graupen. Mama war sauer, weil die nie auf unserem Speiseplan standen. Aber woher hätte ich denn wissen sollen, dass diese „Wein-Trauben“ heißen in Kassel? Ich war der Meinung, dass die schon abgepackt waren und habe nicht darauf geachtet. Beim Metzger gab es „Gehacktes-Brötchen“. Mir völlig unbekannt. Ich habe auch nie eines gegessen, nach dem Motto: "was der Bauer nicht kennt, isst er nicht".
Wenn ich von der Schule gekommen bin mit der Straßenbahn, habe ich mir oft beim Naschkätzchen ein Eis gekauft. Genüsslich habe ich es an Ort und Stelle gegessen und dabei die Fußgänger-Ampel betätigt. Sie ist auf Rot gesprungen und die Autofahrer mussten anhalten. Interessiert habe ich die Fahrer beobachtet....wie gemein von mir!
In unserer Nähe gab es einen Bach (die Losse), baden konnte man nicht darin. Es gab darin viele Wasserratten, igitt. Aber im Winter, wenn er vereist war, konnte man darauf rumschlittern. Außerdem war in der Buttlarstraße einen Bauernhof. Wenn ich auf dem Weg zu meiner Freundin war, hatte ich Angst vor den Gänsen. Sie konnten fliegen und waren sehr aggressiv.
Der Eichwald war ziemlich nahe bei uns. Dort waren wir oft. Ich auch zum Joggen, was damals noch nicht populär war. Auf dieser Strecke gab es am Anfang einen Judenfriedhof, den ich beeindruckend fand. Wenn mein Vater dabei war, konnte er uns die Inschriften übersetzen, weil er Hebräisch konnte. Am Fuß des Eichwaldes war eine Barackensiedlung, der sogenannte Dschungel. Ich habe mich damals gefragt, wer da wohl wohnt? Es war alles unschön und heruntergekommen. Meine Schwester hatte in ihrer Klasse einen Schulkameraden, der total nett war, irgendwo aus dem Balkan, der war z.B. ein Bewohner dieser Baracken. Ihr hat er immer leidgetan.
Des Weiteren gab es einen Dorfplatz und eine Schule. Sogar einen Turnverein. Das war für mich sehr wichtig, Sport war mein Ding. Im Winter habe ich geturnt und auch an Wettkämpfen teilgenommen. Zur Leichtathletik im Sommer musste ich in die Stadt fahren. In Bettenhausen gab es vieles, nur kein Stadion. Dafür aber ein Hallenbad. Das fand ich auch klasse.
Natürlich gab es auch eine Kirche. Der evangelische Pfarrer hieß im jener Zeit Johannes Eichler. Da ich gerade bei Religion bin, irgendwann habe ich die Diakonisse, Schwester Luise, kennengelernt. Wie das zustande gekommen ist, weiß ich nicht mehr. Bis dato hatte ich mit Religion nichts am Hut. Einmal in der Woche habe ich ihre Bibelabende besucht. Es gab Wochenenden in einer Hütte (Wartburghütte), in der Nähe von Bettenhausen mit Übernachtungen. Fand ich recht nett. Später habe ich manchmal die Bibelabende geschwänzt und bin ausgebüchst.
Auch eine Polizeistation (Revier 7) war vorhanden. Mit 16 Jahren bin ich dort hingelaufen, weil ich einen Personalausweis gebraucht habe. Das Einwohnermeldeamt war in diesem Gebäude. Frage des strengen Angestellten: "Was für einen Beruf hat Dein Vater". Nächste Frage: "Größe"? Allerletzte Frage: "Augenfarbe". So gesprochen in dieser Reihenfolge. Ich dachte im Stillen, warum fragt der mich so nach meinem Vater aus, weil ich schüchtern war, habe ich geschwiegen. Nach 14 Tagen ist der Personalausweis gekommen. Mit 1,76 cm Größe und grauer Augenfarbe. Ich bin 1,66 cm groß und habe braune Augen! Mensch, hat mich das geärgert! Ist zwar nie jemanden aufgefallen, aber es war einfach Mist.
Selbst ein gemütliches Kino (Thalia) gab es in Bettenhausen. Das haben wir oft besucht, zumal wir keinen Fernseher hatten. Einmal kam meine Schwester tränenüberströmt nach Hause, nachdem sie den Mammutfilm "Quo Vadis" angesehen hatte. Den hatte ich Jahre vorher schon zweimal gesehen und musste nur noch lachen.
Eigentlich war Bettenhausen eine kleine Stadt in einer Großstadt. Mit meinen 16 Jahren kam auch die Liebe angeflogen. Mich hat ein Junge interessiert, der uns gegenüber gewohnt hat. Wir haben uns getroffen auf der Frühjahrsmesse in Kassel. Es gab dort eine Raupenbahn, mit 2-er Sitzen. Irgendwann ging die Plane zu. Wir sind eingestiegen und ich dachte, als wir im Dunkeln saßen, hoffentlich küsst er mich jetzt. Dem war so und ich war im 7. Himmel. Der erste, richtige Kuss in meinem Leben.
Abends haben wir uns oft getroffen, besonders gerne saßen wir im Sommer auf dem Judenfriedhof unter einem alten Baum. Raschelnde Blätter im Wind, Verliebtheit, Küsse und Reden. Ab und zu hat mein Freund eine Zigarette geraucht, damals war ich strikte Nichtraucherin (das hat sich leider geändert später). Diese harmlose Liebelei ging einige Monate. Was das Schöne daran war, wir wurden anschließend gute Freunde. Freundschaften sind kostbar für mich. Bis ich aus Kassel weggezogen bin, war es so.
Die Idylle, die wir als Familie hatten, wurde am 26.10.1961 jäh zerstört. Mein Vater ist plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben. Es war schrecklich. Meine Schwester Gisela war 12 Jahre und ich 17 Jahre alt. Wie hat sich mein alter, wiedergefundener Freund kürzlich ausgedrückt? "Hinfallen, aufstehen, weitermachen". Es war nur so verdammt schwer.
Zwei Jahre später wurden wir aus unserer Wohnung vertrieben, der Hauseigentümer hatte gewechselt. Zwar wurde uns eine Wohnung im Dormannweg angeboten, sogar mit Zentralheizung. Aber die alte war schöner. Wenigstens haben im Hof Schneeglöckchen geblüht, im Winter. Den Umzug mussten wir selbst organisieren und bezahlen. Da war Schwester Luise hilfreich, die uns einen Umzugswagen besorgt hat. Im Dormannweg haben wir noch neun Monate gewohnt, dann haben wir im Oktober 1964 Kassel verlassen.
Ich selbst bin dann noch oft in Süddeutschland umgezogen bis ich eine dauerhafte Bleibe gefunden habe, in Überlingen. Rückblickend: Kassel ist eine schöne Stadt mit sympathischen Einwohnern. Meine Erinnerung an diese fünf Jahre sind bittersüß.
Mein Lebensmotto: "Der kürzeste Weg zwischen zwei Menschen ist ein Lächeln", hat sich gut bewährt. Stammt aber nicht von mir. (angeblich aus China).
Text: Sigrid B., Juli 2022
Editor: B. Schaeffer, August 2022
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Kurzbeschreibung
Im Sommer 2022 stöberte Sigrid B. im Internet und fand auf der Seite „Erinnerungen im Netz“ den Weg zurück zu einem spannenden Abschnitt ihres Lebens, die Jugendzeit. Ihr Zuhause war in der Zeit zwischen 1959 und 1964 eine Wohnung in einem Dreifamilienhaus in der Eichwaldstraße 89. Im Dialog mit einem Nachbarn aus dieser Zeit tauschte sie Erinnerungen und Erlebnisse aus und erneuerte ihren Blick auf die Zusammenhänge und Erfahrungen ihrer „Bettenhäuser-Zeit“. Im folgenden Beitrag präsentiert sie einen kurzen Ausschnitt aus ihren Lebenserinnerungen.
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