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Der Kindergarten in der Pfarrstraße 34

Das Pfarrhaus 1951 von der Eichwaldstraße aufgenommen. im Vordergrund eine Frau mit zwei Kindern und ein Strommast

Das Pfarrhaus 1951
Foto: Evangelische Kirchengemeinde Bettenhausen

Vor ca. 70 Jahren besuchte ich den evangelischen Kindergarten in der Pfarrstraße 34 in Kassel-Bettenhausen. 1947 wurde der Kindergarten im Gemeindehaus am Dorfplatz gegründet. Es gab nur einen Raum für 60 Kinder und zwei Erzieherinnen. 1949 zog der Kindergarten in die Pfarrstraße um. Heute befindet sich dort die Evangelische Kindertagesstätte. Hier wird für bis zu 48 Kinder von 18 Monaten bis zu sechs Jahren eine Ganztagsbetreuung angeboten. Es gibt eine Waldgruppe und es werden Kinder mit besonderen Förderbedarf aufgenommen. Der städtische Kindergarten in der Osterholzstraße 40 wurde erst 1957 eröffnet.

Die Bezeichnungen für Formen außerhäuslicher Kleinkindererziehung zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren unterschiedlich, so z.B. Warte-, Spiel-, Hüte-, Strick-, Verwahr-, Bewahr-, Kleinkinderschule. Die drei Angebotsformen Bewahranstalt, Kleinkinderschule und Kindergarten waren in der Praxis häufig gemischt. In Bettenhausen gab es recht früh eine sogenannte Kinderschule. Die Kinderschulen, nach der Fröbelschen Kindergartenbewegung aufgebaut, entwickelten sich seit etwa 1848/49 überall in Deutschland, wobei es zu Anfang auch immer wieder zu Rückschlägen kam, vor allen Dingen in der Zeit der Reaktion. Die fortschrittlich-demokratisch Gesinnten unter den Volksschullehr-kräften traten für Kindergärten nach dem Fröbelschen System ein, und Friedrich Adolph Wilhelm Diesterweg gab 1849 eine Darstellung der Fröbelschen Spielmethode heraus. Dies war insofern verhängnisvoll, als dadurch die Preußische Bürokratie aufmerksam wurde.          

Kinderschule beim Ringelrose-Spiel um 1929 im Garten der Agathofschule. Die Kinder und zwei Erzieherinnen bilden zwei Kreise
Kinderschule beim Ringelrose-Spiel um 1929 im Garten der Agathofschule  Foto: Stadtteilzentrum Agathof e.V.

Nach dem Verbot des "Allgemeinen Deutschen Lehrerverbandes" in Preußen fielen 1851 zunächst auch die Kindergärten der Reaktion zum Opfer. Interessant ist die Begründung, die ich hier einmal erwähnen möchte:"... wie aus der Broschüre, ' Weibliche Hochschulen und Kindergärten' von Karl Fröbel, der Neffe Friedrich Fröbels, erhellt, bilden die Kindergärten einen Teil des Fröbelschen sozialistischen Systems, das auf Heranbildung der Jugend zum Atheismus berechnet ist. Schulen usw., welche nach Fröbel oder ähnlichen Grundsätzen errichtet werden, können deshalb in Preußen nicht geduldet werden." Die Haltung Preußens hatte Auswirkungen auf andere deutsche Teilstaaten. Fröbel starb verbittert über solche Anschuldigungen am 21. Juni 1852. Bis zuletzt leitete er die Ausbildungsstätte für Kindergärtnerinnen im Schloss Marienthal bei Blankenburg. So zeigt sich hier, dass die Modernisierung und die fortschreitende allgemeine Bildung des Volkes schon immer von weiten Kreisen der Politik und der „besseren" Gesellschaft unerwünscht war und ist. Doch die Kirchen führten trotz Bedenken überall Kindergärten nach dem Fröbelschen Vorbild ein, so auch in Bettenhausen.

Tante Edith begrüßt die Kinder auf der Treppe. In der Bildmitte stehen meine Mutter und ich.
Tante Edith begrüßt die Kinder auf der Treppe. In der Bildmitte stehen meine Mutter und ich.  Foto: Evangelische Kirchengemeinde Bettenhausen
Kindergruppe an einem runden Tisch 1955
Kindergruppe an einem runden Tisch 1955, 6. von links Karl Heinz Franke. 4. von links Holger Wiederhold.  Foto: Evangelische Kirchengemeinde Bettenhausen

Warum ich in den Kindergarten musste, war mir und ist mir noch immer unklar. Ich vermute, dass meine Mutter, die eigentlich immer krank war, etwas Ruhe vor mir brauchte. Nach zwei Weltkriegen und den schlimmen Hungerzeiten war ihr Körper ausgezehrt und die Nerven lagen blank. Meine Geschwister waren bei meiner Geburt bereits 11 und 13 Jahre alt, also aus dem Gröbsten raus. Die Mutter war 36 Jahre und der Vater war 39 Jahre alt; und dann kam ich.

Zunächst sollte ich wohl den ganzen Tag in den Kindergarten, das heißt nach dem Mittagessen (ob gekocht wurde oder man etwas mitbringen musste weiß ich nicht mehr) wurden Feldbetten aufgestellt und man musste, ob man müde war oder nicht, Mittagsruhe halten. Ich kann mich noch erinnern, dass die Kindergärtnerin (sie wurden damals mit Tante angesprochen) sagte: „Du brauchst nicht zu schlafen, aber mach die Augen zu.“ Der Mittagsschlaf ist mir heute sehr willkommen, aber damals hatte ich keine Lust. Ich wollte lieber spielen. Darum nervte ich wohl meine Mutter so sehr, dass das Experiment abgebrochen wurde und ich mittags nachhause gehen konnte.

Zu jeder Jahreszeit, wenn es das Wetter erlaubte spielten wir nach dem gemeinsamen Frühstück in dem großen Pfarrgarten. An zwei Begebenheiten kann ich mich noch erinnern. Einmal wurde ich von einem Jungen, ich meine er hieß Harald, vor Übermut in die Schulter gebissen. Ein anderes Mal, das Wetter war wohl schlecht und die Kindergärtnerinnen waren anderweitig beschäftigt haben wir Kinder mit den kleinen Stühlen einen großen Turm gebaut.

Todesanzeige von Edith Hinterweller (Tante Edith) 2012
Todesanzeige von Edith Hinterweller (Tante Edith) 2012  Foto: HNA

Im Oktober 1900 wurde die Evangelische Kirchengemeinde Bettenhausen wieder selbständig und der neue Pfarrer Carl August Ziegler aus Helsa zog in das alte Schulgebäude an der Dorfstraße 8, heute Erfurter Straße 8, ein. 1903 bezog der Pfarrer mit seiner Frau und vier Kindern das neu erbaute Pfarrhaus in der Pfarrstraße 34, da die Dienstwohnung im alten Schulgebäude am Dorfplatz zu klein war.  Anfang der 50er Jahre gab es drei Wohnungen neben dem Kindergarten im Erdgeschoss, die von Pfarrer Sendler, Küster Strohwald und Diakon Segner bewohnt wurden. Aus Erzählungen meines Vaters weiß ich, dass etwa 1920 nur der Pfarrer Hohmann mit seiner Familie in dem Haus mit dem großen Garten wohnte. Einmal soll der Pfarrer zu meiner Großmutter gesagt haben, sie solle doch mal jemanden vorbei schicken um Äpfel zu holen, die in dem Garten reichlich wuchsen. Mein Vater wurde beauftragt. Die Frau des Pfarrers gab ihm aber keine Äpfel, sondern sagte zu ihm: „Junge das muss ein Missverständnis sein.“ Mein Vater war darüber so erbost, dass er die schwere Tür des Pfarrhauses mit aller Wucht zuwarf.

AK des Pfarrhauses in der Pfarrstrasse 34, ~1918 Repräsentatives Gebäude im Stil der Gründerzeit
AK des Pfarrhauses in der Pfarrstrasse 34, ~1918  Foto: Stadtteilzentrum Agathof e.V.

Eine andere Geschichte, wahrscheinlich um dieselbe Zeit, berichtete mein Vater. Im Pfarrgarten wurden auch Hühner gehalten. Eines Tages waren Diebe im Hühnerstall und haben Eier oder auch Hühner gestohlen. An die Wand des Stalls schrieben sie noch: „Der liebe Gott ist überall, nur nicht beim Pfarrer Hohmann im Hühnerstall.“

Das Pfarrhaus Pfarrstraße 34 Treppe zum Eingang des 2 geschossigen Hauses im Jahr 2012
Pfarrhaus, Pfarrstraße 34   Foto: Bernd Schaeffer 2012

Wenn Sie liebe Leser/in (Lesende) noch Erinnerungen an den Kindergarten haben melden Sie sich bitte im Stadtteilzentrum Agathof e.V. 34123 Kassel, Agathofstraße 48 Telefon 0561 52482. Ich würde mich sehr freuen von Ihren Erlebnissen zu hören.

Text und Editor: Joachim Schmidt, April 2021

Quellen:

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Kurzbeschreibung

Vor ca. 70 Jahren besuchte ich den evangelischen Kindergarten in der Pfarrstraße 34 in Kassel-Bettenhausen. 1947 wurde der Kindergarten im Gemeindehaus am Dorfplatz gegründet. Es gab nur einen Raum für 60 Kinder und zwei Erzieherinnen. 1949 zog der Kindergarten in die Pfarrstraße um. Heute befindet sich dort die Evangelische Kindertagesstätte. Hier wird für bis zu 48 Kinder von 18 Monaten bis zu sechs Jahren eine Ganztagsbetreuung angeboten. Es gibt eine Waldgruppe und es werden Kinder mit besonderen Förderbedarf aufgenommen. Der städtische Kindergarten in der Osterholzstraße 40 wurde erst 1957 eröffnet.

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