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Bombenfund bedroht die Unterneustadt

Trümmer und Zerstötung in der Salztorstraße nach Bombenangriff 1943

Schleusenhaus Salztorstr. 5 und im Hintergrund die alte Zündholzfabrik nach Bombenangriff, 23.10.1943
Foto: Gerhard Böttcher, Kassel

Wegen einer Fünf-Zentner-Bombe mit einem gefährlichen Spezialzünder mussten im Mai 1994 in der Unterneustadt 500 Menschen evakuiert werden. Erst Stunden nach Räumung des Wohnviertels konnte gegen 21 Uhr des 17. Mai die Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg entschärft werden. Dieses Ereignis weckte bei den Bewohnern die schlimmsten Erinnerungen an die Zerstörung des historischen Stadtteils im Oktober 1943.

Ein alter Unterneustädter sagte: „Der Krieg holt uns immer wieder ein", als die Maßnahmen zur Evakuierung der Bewohner im Viertel um die Hafenstraße und die Salztorstraße anlaufen. Doch wie kam es zu dieser Bedrohung? Ich war damals in leitender Funktion bei der Berufsfeuerwehr Kassel und erinnere mich noch genau an die Abläufe bei diesem schwierigen Einsatz der Sicherheits- und Ordnungskräfte.

Trümmer zwischen Wiesengrün und Blumen in der Salztorstraße 1992
Brach liegendes Gelände zwischen Salztor- und Hafenstraße, 1992   Foto: HNA

An diesem 17.05.1994, einem warmen Frühlingstag, wurden Erdbauarbeiten im Bereich des Standortes der alten Zündholzfabrik in der Salztorstraße durch geführt. Nachdem durch den Krieg die Unterneustadt weitestgehend zerstört wurde, sollte nun hier ein neues Wohnquartier mit 120 Wohneinheiten entstehen. Der Bauherr, das Versorgungswerk der Landesärztekammer, hatte das Baugrundstück nahe der Fulda bereits 1991 erworben.

Evakuierung Mann und Polizei auf Straße 1994
Ein älterer Mann lässt sich von der Polizei die Räumung erklären  Foto: J. Herzog, HNA

Kurz nach zwölf Uhr stießen Bauarbeiter in der Hafenstraße auf die Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg. Die an den Fundort gerufene Polizeistreife erkannte die drohende Gefahr und fordert Verstärkung an. Per Lautsprecheransagen in Deutsch und Türkisch wurden die Leute aufgefordert, ihre Häuser zu verlassen. In der Folgezeit wurden rund 500 Menschen evakuiert. Sogar im Gefängnis mußten Untersuchungshäftlinge ihre Zellen auf eine abgelegene Seite wechseln. Der zuständige Kampfmittelräumdienst wurde gerufen. Die Polizei sperrt großräumig - bis zu 500 Meter - um den Bombenfundort ab. Was die Arbeiter und die Polizei noch nicht wussten: Die Bombe hatte einen Spezialzünder. Als chemischen Langzeitzünder bezeichnet ein Sprengstoffexperte den Mechanismus später. Wäre der Behälter mit Säure in der Bombe durch Bewegung des Objektes beschädigt worden, hätte es auch 50 Jahre nach Kriegsende innerhalb von 30 Minuten - spätestens aber nach 72 Stunden - wegen des Austritts von Flüssigkeit zur Explosion kommen können.

Der anwesende Kampfmittelräumdienst wagte sich nach reiflicher Überlegung nicht an das Objekt. Die Sache war keine Routineangelegenheit, wie die Entschärfung einer Stabbrandbombe, die am Vormittag auf freien Feld in Baunatal in kurzer Zeit abgelaufen war. Es kann noch Stunden dauern, bis so eine ständig drohende Gefahr beseitigt ist.

Ein Experte vom Regierungspräsidium aus Darmstadt wurde angefordert. Doch der würde erst gegen 18 Uhr eintreffen können. Für die betroffenen Bewohner, die z.T. im Haus der Jugend untergebracht wurden, stellte sich nun die Frage der Versorgung mit Getränken und Speisen. Sollte der Einsatz bis in die Nacht dauern, musste auch an eine Notunterkunft gedacht werden. Erst jetzt wurde die Leitstelle der Feuerwehr und des Rettungsdienstes in das operative Geschehen eingebunden.

Während die Polizei am Bunker in der Hafenstraße ihre örtliche Führungsstelle aufbaute, wurde der Bus für die mobile Einsatzleitung der Feuerwehr am Haus der Jugend postiert. Der Verkehrsgarten vor dem Haus glich fast einem Rummelplatz. Evakuierte Personen und Helfer liefen hier vorbei und erhielten Auskunft und Hilfe. Rettungswagen brachten ältere und behinderte Menschen ins Haus der Jugend, wo freiwillige Helfer des Roten Kreuzes Tee und Kaffee servierten. Notärzte kümmerten sich um die medizinische Betreuung.

Evakuierung Polizei und Rettungsdienst führen ältere Personen aus dem bedrohten Gebiet, 1994
Polizei und Rettungsdienst bei der Evakuierung an der „Elwe“   Foto: J. Herzog, HNA

Berufsfeuerwehr und der Rettungsdienste trafen Vorkehrungen für eine Übernachtung in der Herderschule auf der westlichen Seite der Unterneustadt im Blücherviertel. Dazu wurden Feldbetten und warme Decken aus den Beständen des Katastrophenschutzes von RK Helfern antransportiert.

Für die Anwohner war das eine riesige, aufregende Situation. Einige Ältere fühlten sich gar an die Kriegszeit erinnert. Ein Mann, der an der Fuldaschleuse arbeitete, hat Pech; Sein Auto stand in der Sperrzone. So konnte er nicht nach Speele zu seiner Familie. Andere hatten Sorge um ihr Hab und Gut, das sie in den Wohnungen zurück lassen mussten.

Die Bombenexperten aus Darmstadt und Münster ließen sich Zeit. Nur nichts überstürzen, hieß ihre sinnvolle Devise. Nur so können die Experten sicher arbeiten. Es ist ihr Leben, dass sie bei dieser schwierigen Arbeit riskieren. Inzwischen wurde es dunkel und an das Erdloch mit der Bombe musste eine Lichtgiraffe der Feuerwehr zum Ausleuchten dicht am Kraterrand aufgestellt werden. Für die Einsatzkräfte der Feuerwehr war dies eine besonders kritische Situation, angesichts der fortwährend drohenden Gefahr. Der kleinste Fehler hätte die Explosion bedeuten können.

Scheinwerferlicht beleuchtet die entschärfte Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg, 1994
Scheinwerferlicht beleuchtet die entschärfte Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg  Foto: J. Herzog, HNA

Doch kurz nach 21 Uhr war es schließlich vollbracht: "Bombe entschärft!" Alle atmeten auf.

Der Bombenexperte, Dieter Oppermann, vom hessischen Kampfmittelräumdienst in Darmstadt erklärte, dass nur hin und wieder solche Bomben mit diesem Typ Zeitzünder gefunden werden. Der Typ sei gefährlich. In Kassel war es die Erste. Die entschärfte Fünf-Zentner-Bombe könnte von einem amerikanischen Angriff vom 30. Dezember 1944 stammen. Damals seien über 2100 Bomben durch die Wolken gefallen. Der Angriff habe dem Verschiebebahnhof in Rothenditmold gegolten.

Die Menschen kehrten bald in ihre Quartiere zurück. Doch die Angst blieb, denn die Bombe hätte jederzeit hoch gehen können und wie viele liegen noch unerkannt im Erdreich, vielleicht in ihrem Grundstück? Der Bombenfund in der Unterneustadt hinterließ Verunsicherungen.

Hintergrundinformationen:
Beim chemischen Langzeitzünder hält eine Scheibe aus Zelluloid oder Kunststoff den Schlagbolzen des Zündmechanismus fest. Beim Abwurf zerbricht eine Auslösespindel eine Glas-Ampulle mit Lösungsmittel, zum Beispiel Aceton. Das tropft nach und nach auf die Scheibe aus Zelluloid. Die Bombe detoniert beim Aufprall auf dem Boden nicht sofort. Erst wenn das Lösungsmittel die Scheibe aufgelöst hat, löst sie den Schlagbolzen aus - die Bombe explodiert. Die Verzögerung liegt je nach Dicke des Zelluloids zwischen einer halben bis zu 144 Stunden.

Funktionszeichnung eines chemischen Langzeitzünders
Funktionszeichnung eines chemischen Langzeitzünders  Foto: www.welt.de/wissenschaft/

Seit den 1980er-Jahren konnten aus britischen und amerikanischen Bildarchivbeständen zugängliche Aufklärungsfotos, d.h. „Kriegsluftbilder der alliierten Luftaufklärung“ aus dem Zweiten Weltkrieg den deutschen Innenministerien der Länder als Kopien zur Verfügung gestellt werden.

Damit wurde die Grundlage geschaffen die Gefährdung durch Kampfmittel durch gezielte Suche in den betroffenen Gebieten zu analysieren. Bei diesen Kampfmitteln handelt es sich zumeist um „Blindgänger“, d.h. Bomben, deren Zündsystem beim Aufschlag auf dem Boden versagt oder infolge nicht ausreichender Entsicherung nicht angesprochen hat.

Der Kampfmittelräumdienst (KMRD) organisiert und leitet die laufende Kampfmittelräumung in Hessen. Das Fachpersonal zur Entschärfung aufgefundener Kampfmittel ist rund um die Uhr erreichbar. Aus dem Jahresbericht des KMRD für 1998 und 1999 geht hervor, dass in Hessen ca. 5000 Hektar an kampfmittelbelasteter Fläche noch vorhanden waren. Da jährlich nur etwa 300 – 350 Hektar entmunitioniert werden, war noch auf lange Sicht von einer latenten Gefahr durch Kampfmittel auszugehen.

Auch 2020 werden immer noch Überreste von Kampfmittel aus dem Zweiten Weltkrieg entdeckt. In Hessen waren es über 1600 Funde. 2020 wurden nach Einschätzung des für ganz Hessen zuständigen Regierungspräsidiums Darmstadt rund 100 Tonnen der gefährlichen Altlasten unschädlich gemacht.

Es ist inzwischen gesetzlich geregelt, dass vor der Bebauung eines als belastet geltenden Geländes dieses nach Kampfmittel untersucht werden muss und erst dann durch die Aufsichtsbehörde freigegeben werden kann. Die mit der Entschärfung von Bomben - insbesondere solchen mit größerem Sprengstoffinhalt - verbundenen Räumungsaktionen betroffener Wohngebiete, eventuell mit Altenheimen und Krankenhäusern, erfordern jedoch den koordinierten Einsatz von Einheiten der Bereiche Brandschutz, Sanitätswesens und Betreuung mit der nach HSOG zuständigen Polizei.

 

Autor und Editor: Erhard Schaeffer, Mai 2021

Quellen:

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Kurzbeschreibung

Wegen einer Fünf-Zentner-Bombe mit einem gefährlichen Spezialzünder mussten im Mai 1994 in der Unterneustadt 500 Menschen evakuiert werden. Erst Stunden nach Räumung des Wohnviertels konnte gegen 21 Uhr des 17. Mai die Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg entschärft werden. Dieses Ereignis weckte bei den Bewohnern die schlimmsten Erinnerungen an die Zerstörung des historischen Stadtteils im Oktober 1943.

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