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Besuch in Bettenhausen/Kr. Meiningen anlässlich der 1. Kommunalwahl nach der Wende

Ortseingang von Bettenhausen Kreis Meiningen in 1990

Ortseingang von Bettenhausen Kreis Meiningen in 1990
Foto: B. Schaeffer, Kassel, 1990

Die Öffnung der innerdeutschen Grenze im November 1989 war ein historisches Ereignis. Die ersten Begegnungen mit den Bürgern aus dem anderen Teil Deutschlands und die damals herrschende Stimmung des Aufbruchs ist für alle Zeitzeugen eine unvergessliche Erfahrung. Bürger aus Kassel-Bettenhausen entdeckten, dass es in der Vorderrhön, südlich der Stadt Meiningen, auch einen Ort mit dem Namen Bettenhausen gibt. So lag der Gedanken nahe, mit den Menschen in Bettenhausen, Kreis Meinigen, Bezirk Suhl Kontakt aufzunehmen und Gespräche zu führen. Ein erster Besuch fand anlässlich der Kommunalwahl im Mai 1990 statt und davon handelt dieser Beitrag.

Der ehemalige Stadtverordnete Heinrich Triebstein knüpfte schon früh Verbindungen zum Rat der Gemeinde in Bettenhausen/Meiningen. Nach dem Austausch von Anschriften und Telefonnummern wurde der Dialog intensivier. In dem Diskurs stellte sich bald heraus, dass die politische Landschaft in der ehemaligen DDR vor einer vollständigen Neugestaltung stand. Alte Parteien, vor allem die SED, hatten abgewirtschaftet und lösten sich auf, bekannte westdeutsche Parteien hatten sich noch nicht gegründet oder wiedergegründet und andere Vereinigungen waren weder strukturiert noch bekannt.

Rathaus von Bettenhausen Kreis Meiningen in 1990
Rathaus von Bettenhausen Kreis Meiningen in 1990  Foto: B. Schaeffer, Kassel

Als dann für den 6. Mai 1990 die ersten freien Kommunalwahlen für das Gebiet der ehemaligen DDR angesetzt wurden, stellten sich nicht nur in Bettenhausen/Kreis Meinigen die Menschen die Frage, wer soll kandidieren und in welcher Gruppierung unter welchem Namen treten die Bewerber an? Da war es naheliegend, dass die Bettenhäuser Kommunalpolitiker, allen voran der Ortsvorsteher Fritz Heib und der Stadtverordnete Heinrich Triebstein, ihre Hilfe zur Vorbereitung der geplanten Wahl anboten. Für die Thüringer Mitbürger war es erforderlich, politisch Gleichgesinnte in ihrem Ort zu finden, sich mit ihnen auf gemeinsame Ziele zu verständigen und unter einer gemeinsamen Wählerliste zu kandidieren.
Der Ort Bettenhausen mit etwa 650 Einwohnern liegt in der Vorderrhön südlich der Hohen Geba im Herpfgrund nahe der innerdeutschen Grenze zwischen Hessen und Thüringen. 1990 prägten zwei ortsansässige LPG (landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften) zum Zwecke der Tierhaltung und der Milchproduktion die ländliche Struktur der Gemeinde. Die Einwohner hatten die Befürchtung, dass mit der Auflösung der Genossenschaften sich die wirtschaftliche Lage für sie gründlich verschlechtern werde. Erste Anzeichen deuteten schon darauf hin, denn nach der Auflösung der bisherigen Absatzwege war es in den letzten Monaten sehr viel schwieriger geworden, ihre landwirtschaftlichen Produkte auf dem freien Markt gewinnbringend oder auch nur kostendeckend abzusetzen.

Bettenhäuser aus Ost und West im Jahr 1990
Bettenhäuser aus Ost und West im Jahr 1990  Foto: B. Schaeffer, Kassel

Schnell kristallisierte sich heraus, dass nur die politische Gruppierung erfolgreich sein könnte, die den Wählerinnen und Wähler Hoffnung machen konnte auf den Erhalt der dörflichen Struktur der Gemeinde, die gegenwärtigen Renten und Einkommen sichern kann und den Ausbau der Infrastruktur auf den Weg bringt. Chancen zum Bürgermeister gewählt zu werden, konnte sich nur jemand machen, der in der Gemeinde schon einen Namen hatte und politisch nicht vorbelastet war.
In den beiden letzten Wochen vor der Kommunalwahl hatte sich Heinrich Triebstein mit Peter Spieß, dem parteilosen Bürgermeisterkandidat in Bettenhausen, auf die Durchführung einer Bürgerversammlung für Freitag, den 4. Mai 1990 in der Kulturhalle verständigt. Für die Einladung zur Bürgerversammlung sollte eine Ausgabe des „Bettenhäuser Boten“ mit dem Zusatz „Extra“ verteilt werden. Der „Bettenhäuser Bote“ war über mehrere Jahrzehnte eine Stadtteilzeitung des Ortsvereins der SPD in Kassel-Bettenhausen. Er erschien in unregelmäßigen Abständen und sollte die Bettenhäuser über die Nachrichten informieren, die in der einzigen Lokalzeitung von Kassel nicht zu lesen waren.
Ein mit dem Kandidaten verabredete Text wurde in Kassel gedruckt und sollte rechtzeitig zur Verteilung an alle Haushaltungen nach Thüringen gebracht werden.

Kopf des Bettenhäuser Boten
Kopf des Bettenhäuser Boten "Extra" als Einladung zur Bürgerversammlung im Mai 1990  Foto: Stadtteilzentrum Agathof; Bettenhausen Archiv

Mit dem folgenden Text bewarb sich P. Spieß bei den Bürgern von Bettenhausen:
 

Kanditat der DBD für die Kommunalwahl in Bettenhausen
Kanditat der DBD für die Kommunalwahl in Bettenhausen  Foto: B. Schaeffer, Kassel

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

Ich bewerbe mich am 6.Mai 1990 um das Amt des Bürgermeisters.
Sollte ich wieder gewählt werden, geht es vor allem um die folgenden Ziele, die immer im gemeinsamen Gespräch und im gemeinsamen Bemühen um Übereinstimmung mit Ihnen zu verwirklichen sein werden:

  • - Fortsetzung der guten alten Traditionen wie Zusammenarbeit mit den jungen Menschen, um ihnen ein Gefühl der Verbundenheit mit ihrer Heimat zu geben;
  • - Betreuung der Rentner über die Volkssolidarität;
  • - Erhaltung und Weiterentwicklung des kulturellen Niveaus, insbesondere des Karnevals und der Kirmes;
  • - Entwicklung unseres Dorfes als Zentrum des Wahlkreises;
  • - Förderung des Fremdenverkehrs, z.B. durch Erschließung eines Drachenfluggebietes;
  • - Steigerung der Attraktivität unseres Kulturzentrums durch Erweiterung des Angebots auf gastronomischen, aber auch auf geistig-kulturellem Gebiet;

Als weitere wichtige Punkte sehe ich an:

  • - die Erweiterung und den Ausbau des Sportplatzes und des Geländes um den Sportplatz;
  • - Gemeinschaftsaktionen für mehr Ordnung und Sauberkeit im und um unser Dorf.

Dazu gehört auch die Einrichtung einer geordneten Mülldeponie.
All diese Maßnahmen und das konsequente Anpacken von Umweltschutzfragen sollen dazu beitragen, die Lebensqualität in unserem Dorf zu erhöhen.
Hilfreich wird dabei auch sein, dass wir bestehende Kontakte zu Partnergemeinden im Westen unseres Landes nutzen, pflegen und entwickeln.

Mit freundlichen Grüßen verbleibt
gez. Peter Spieß

Eingang und Altar mit Orgel der Kirche Zum Heiligen Kreuz in Bettenhausen
Eingang und Altar mit Orgel der Kirche Zum Heiligen Kreuz in Bettenhausen  Foto: B. Schaeffer, Kassel

Für die Fahrt von Kassel nach Thüringen wurde bei einem ortsansässigen Autohändler ein Kleinbus gemietet und eine siebenköpfige Delegation begab sich auf den Weg. Die Einquartierung erfolgte in Bettenhausen/Meinungen bei den Familien, die Schlafmöglichkeiten anzubieten hatten.

Nach einer mehr als dreistündigen Fahrt über Fulda, Tann/Rhön und teilweise sehr schlechten Straßen in der ehemaligen DDR kam die Kasseler Abordnung am Abend des 30. April 1990 in Bettenhausen an. Der Empfang vor dem Kulturhaus in der Ortsmitte war sehr freundlich und wie in der damaligen Zeit üblich, auch herzlich.
Der Gastgeberin des Autors war die Familie des Alois Heidl, einem selbständigen Schuhmachermeister, mit eigenem Haus und eigener Werkstatt. Der Schuhmachermeister, Jahrgang 1926; zeigte stolz seine Werkstatt und seine maßgeschneiderten Schuhe. Er betonte, dass er in den über 40 Jahren des real existierenden Sozialismus seine Eigenständigkeit als Handwerker behalten konnte und seine Produkte in dieser Zeit sehr gefragt waren. Sein Sohn Reinhard hatte dasselbe Handwerk gelernt und die Hoffnung von Alois Heidl ruhte darauf, dass sein Betrieb auch die kommende Generation ernähren könne.
In den folgenden beiden Tagen bestand die Gelegenheit noch andere Einwohner kennenzulernen und sich im Dorf umzusehen. Ein Baudenkmal von besondere Bedeutung ist die Kirche „Zum Heiligen Kreuz“ aus dem frühen 17. Jahrhundert. Einen Glanzpunkt bildet der Kanzelaltar aus dem Jahr 1775 mit der darüber befindlichen Orgel. Die Kirche und ihre schmuckvolle Innenausstattung waren in einem beklagenswerten Zustand und beduften damals einer grundlegenden Restaurierung. Die Orte mit dem selben Namen liegen beide eingebettet in einem Flusstal und sie verbindet, dass bis in das 19. Jahrhundert eine Vielzahl von Mühlenbetrieben die wirtschaftliche Basis bildete.

Die Podiumsgäste der Bürgerversammlung am 4. Mai 1990
Die Podiumsgäste der Bürgerversammlung am 4. Mai 1990  Foto: B. Schaeffer, Kassel

Die Bürgerversammlung am Freitag, den 4. Mai 1990 war, dank der flächendeckend verteilten Einladung des „Bettenhäuser Boten Extra“, gut besucht. Auf einem kurzfristig hergerichteten Podium nahmen neben den ortsansässigen Bewerbern auch der Kassel-Bettenhäuser Ortsvorsteher Fritz Heib und der Kasseler Stadtverordnete Heinrich Triebstein Platz. Die Gäste wurden vom Versammlungsleiter vorgestellt, alle anderen Anwesenden kannten sich offensichtlich. Es gab Getränke zu bezahlbaren Preisen, wobei die aus dem Westen eingeführten Biere deutlich teurer verkauft wurden. Nachdem der Bürgermeisterkandidat Peter Spieß seine politischen Ziele vorgestellt hatte, konnten Fragen gestellt werden. Die Fragerunde war von der Sorge um eine ungewisse Zukunft geprägt. Einige Mitarbeiter der LPG fürchteten nicht ganz unbegründet, um den Erhalt ihrer Arbeitsplätze. Der Abend endete mit der Bitte an die Anwesenden, von dem neu erworbenen Wahlrecht auch Gebrauch zu machen.
Die Kasseler Abordnung fuhr voller neuer Eindrücke am Samstag wieder zurück nach Kassel. Gespannt wartete man auf das Wahlergebnis vom 6.Mai 1990.
Die Gemeinde Bettenhausen hatte damals 609 Wahlberechtigte, davon waren 530 zur Wahl gegangen, was einer Wahlbeteiligung von 88% entsprach. Acht Gruppierungen hatten sich um die 15 Gemeinderats-Sitze beworben. Die von den Kasseler Kommunalpolitikern unterstützte Liste der „Deutschen Bauernpartei Deutschland“ (DBD) mit Peter Spieß an der Spitze erhielt 48,26% der Stimmen und sicherte sich damit sieben Sitze. Mit weitem Abstand folgte die CDU und der Bund Freier Demokraten (BFD) ein neu gegründeter Zusammenschluss liberaler Parteien, die jeweils zwei Sitze bekamen. Auf vier weitere Listen entfiel jeweils ein Sitz.
Die Kasseler Besucher waren mit dem Wahlergebnis sehr zufrieden und freuten sich besonders über die hohe Wahlbeteiligung von fast 90%.

Die Ortsmitte von Bettenhausen mit Maischmuck 1990
Die Ortsmitte von Bettenhausen mit Maischmuck 1990  Foto: B. Schaeffer, Kassel

Nach der Gemeindereform in Thüringen wurde Bettenhausen das Verwaltungszentrum der neu gegründeten Einheitsgemeinde „Rhönblick“. Der schon genannte Peter Spieß war viele Jahre der gewählte Bürgermeister von Bettenhausen und über 30 Jahre lang kommunalpolitisch aktiv.

Der Schuhmachermeister Alois Heidl war in 2022 mit 96 Jahren der älteste Einwohner der Gemeinde Rhönblick und seinen Leisten treu geblieben.

Hier geht es nach Rhönblick-Bettenhausen

Text und Editor: B. Schaeffer, April 2024
Quellen:

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Kurzbeschreibung

Die Öffnung der innerdeutschen Grenze im November 1989 war ein historisches Ereignis. Die ersten Begegnungen mit den Bürgern aus dem anderen Teil Deutschlands und die damals herrschende Stimmung des Aufbruchs ist für alle Zeitzeugen eine unvergessliche Erfahrung. Bürger aus Kassel-Bettenhausen entdeckten, dass es in der Vorderrhön, südlich der Stadt Meiningen, auch einen Ort mit dem Namen Bettenhausen gibt. So lag der Gedanken nahe, mit den Menschen in Bettenhausen, Kreis Meinigen, Bezirk Suhl Kontakt aufzunehmen und Gespräche zu führen. Ein erster Besuch fand anlässlich der Kommunalwahl im Mai 1990 statt und davon handelt dieser Beitrag

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