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Erinnerungen an 1945
- Autor: Falk Urlen
- Zeit: 1945
- Ort: Steinigkstraße
- Vom: 28.06.2016
- Themen: Jugend- und Kindheitserinnerungen, Menschen erzählen
Frau Hilde Doussier, geb. Cramer, gab mir vor einiger Zeit ein Interview und erzählte vom Einrücken der Amerikaner im April 1945 . Jetzt schickte Sie mir einen Brief mit Dingen, die ihr nachträglich noch eingefallen sind. Diesen Brief möchte ich Ihnen im Folgenden zeigen.
"Sehr geehrter Herr Urlen,
wie bereits mit Ihrer Frau am Telefon besprochen, lasse ich Ihnen nachfolgend noch einige Erinnerungen an die unmittelbare End- bzw. Nachkriegszeit zukommen, welche mir erst später wieder einfielen. Vielleicht haben Sie ja Verwendung dafür.
Einerseits wurde nicht nur durch die Amerikaner Hausrat "verschleppt", sondern es fanden auch Plünderungen von Gegenständen aus den Wohnungen durch die Zwangsarbeiter statt, ehe die Bewohner zurückkehrten. Von diesen entwendeten Dingen tauchte natürlich nichts wieder auf.
Aber auch eine Plünderung seitens der Deutschen ist mir in lebhafter Erinnerung: Aus dem sog. "Bettenhaus" (eine langgestreckte Holzhalle hinter dem Sauerstoffwerk in der Forstfeldstraße - "Reichskriegerhalle") wurden u. a. größere Mengen eines Tüll- oder Gazestoffes entwendet. Meine Familie wurde darauf aufmerksam, als kurze Zeit danach an vielen Fenstern in der "Afrikasiedlung" plötzlich rosafarbene Gardinen auftauchten. Nach der ersten Wäsche wurden diese dann weiß.
Von dem Gelände des o. g. Sauerstoffwerkes mußten wir eine Zeit lang unser benötigtes Wasser holen, da offenbar Leitungen zerstört waren. Auch Stromausfälle gab es häufig. Dann wurden abends Karbidlampen entzündet (stank scheußlich). Deren Licht war spärlich. Deshalb saß man dann singend beieinander. In der Sommerzeit blieb es allerdings lange hell, weil die Uhr in der Zeit um 2 (!) Stunden vorgestellt wurde. (Meines Erinnerns nur dieses eine mal; 1 Stunde Zeitumstellung erfolgte bereits im Krieg).
Die Fahnen waren beim Herannahen der Amerikaner noch beiseite geschafft worden. Aber eines Tages sahen wir eine lange wie einen Läufer quer über die Straße gelegt, die auch tüchtig begangen und entsprechend beschmutzt wurde. Unsere kleine ergab immerhin noch einen "Hessenkittel" für mich, welchen meine Schwester mir nähte und weiß bestickte, wie es bei den echten blauen üblich ist.
Bis zur Rückkehr der ausländischen Zwangsarbeiter in ihre Heimatländer verging noch einige Zeit, in der diese Menschen ja mit Nahrung versorgt werden mußten. Mit dieser Aufgabe wurde mein Vater betraut. Ein ehemaliger Kollege - ein Herr Voss -, welcher meinen Vater als vertrauenswürdig kannte und wußte, daß er kein Parteimitglied war, hatte ihn für diese Aufgabe bei den Amerikanern empfohlen.
Man stellte meinem Vater einen LKW zur Verfügung und eine Zelle im "Flachbunker" für Lagerzwecke. Die Waren holte er u. a. vom "Magazinhof" und dem "Konsumlager" am Hafen . Ob mein Vater für diese Tätigkeit eine Bezahlung erhielt, weiß ich nicht. Er bekam aber Naturalien wie Brot und Dauerwurst, auch Mehl, Grieß und Zucker.
Als er mal wieder das "Lettenlager" beliefern wollte, ging im Eingangsbereich ein Betrunkener mit einer Axt auf ihn los. Zum Glück war die Lagerleiterin in der Nähe und konnte Schlimmeres verhindern. Als Entschädigung für den entstandenen Schrecken sollte mein Vater beim nächsten mal eine große Tasche mitbringen. Diese wurde dann von der Lagerleiterin mit frischem Fleisch vollgepackt. Zum Portionieren von z.B. Mehl, Zucker und Grieß fuhr unsere Küchenwaage stets mit auf dem LKW.
Diese Tätigkeit dauerte bis zu einem Unfall meines Vaters. Er wurde an der Hafenbrücke auf dem Fahrrad fahrend von einem amerikanischen Auto an- und nach dem Sturz mit dem Hinterrad des Wagens über den Brustkorb überfahren. Eine Wunde am Kopf beim Aufschlag auf die Bürgersteigkante und mehrere Rippenbrüche waren die Folge. Ein anschl. vorbeikommender amerikanischer Wagen brachte meinen Vater ins Stadtkrankenhaus am Möncheberg, wo er im fensterlosen Bunker untergebracht wurde. Das ertrug er nur 1 Woche und verließ dann auf eigenen Wunsch das Krankenhaus.
Nach der Wiedergenesung stellte der Bezirksamtsleiter Stöcker meinen Vater im Wirtschaftsamt ein, wo er bis zu dessen Auflösung blieb. Hier ging es u. a. um Schlachtgenehmigungen und Anzahl der gehaltenen Hühner.
Der Sommer 1945 war sehr sonnig und heiß. Die Erdbeeren z. B. reiften so gut, daß wir morgens und abends ernten konnten.
Voll- bzw. Magermilch gab es ja nur begrenzt auf Karten, aber Buttermilch gab es reichlich. In dieser Zeit wurde ich täglich mit einer 5 L-Kanne zu "Ramfeld" geschickt (Stets Warten in langer Schlange). Meine Mutter bereitete daraus u. a. die köstlichsten Speisen.
Um uns auch mit Fetthaltigem zu versorgen, bauten wir bereits während des Krieges Mohn im Garten an. Zunächst wurde der nur verbacken. Als mein Vater dann nach dem Krieg mal dienstlich mit Herrn Stöcker nach Thüringen fuhr, besuchte er auch unsere Verwandten in Wutha bei Eisenach. Hier betrieb mein Großvater mütterlicherseits mit meinem Onkel eine kleine Metallwarenfabrik. Dort baute mein Vater (er war im ersten Beruf Schlosser. Erst als der älteste Bruder den väterlichen Betrieb - eine Zementfabrik - übernehnen sollte, absolvierte er einen Handelsschulkurs, um als kaufm. Leiter dort einzusteigen) eine kleine Ölpresse für den Mohn. Darin haben wir auch mal Raps gepresst. Rapsöl schmeckte sehr würzig zu auf der Herdplatte geröstetem Brot.
Übrigens, um vor den einrückenden Russen, die ja im Austausch gegen einen Teil Berlins u. a.auch Thüringen erhielten, zu "fliehen", ist mein Vater mit Herrn Stöcker auf "Schleichwegen" , die er als ehemaliger Thüringer gut kannte, wieder Richtung Kassel gefahren, damit sie nicht "festgesetzt" wurden.
Soweit zu meinen Erinnerungen.
Bochum, im Juni 2016
Mit freundlichen Grüßen"
Redaktion: Falk Urlen, Juni 2016
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Kurzbeschreibung
Frau Doussier, geb. Cramer, gab mir vor einiger Zeit ein Interview und erzählte vom Einrücken der Amerikaner im April 1945. Jetzt schickte Sie mir einen Brief mit Dingen, die ihr nachträglich noch eingefallen sind. Diesen Brief möchte ich Ihnen im Folgenden zeigen.
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