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Baracke statt Biergarten am Inselweg

Die Wohnbaracke am Inselweg, 1952

Die Wohnbaracke am Inselweg, 1952
Foto: Stadtteilzentrum Agathof e.V.

Im Zweiten Weltkrieg wurden durch die Bombardierung der alliierten Fliegerverbände in Kassel etwa 80 Prozent aller Gebäude zerstört. Auch die Gaststätte „Insel Helgoland“ am Inselweg 2 wurde durch einen Volltreffer in der Nacht des 3. Oktobers 1943 vernichtet. Das Gastwirtsehepaar August und Gretel Leinweber errichtete unmittelbar nach Kriegsende an alter Stelle – zum Teil mit aufbereiteten Trümmersteinen- ein neues Gebäude mit stark veränderter Architektur. Wegen der existierenden Wohnungsnot mussten sie erlauben, dass auf der Fläche des ehemaligen Biergartens eine Baracke als vorübergehend Bleibe für eine vierköpfige Flüchtlingsfamilie aufgestellt wurde. Die aus dem Osten geflüchtete Familie Schwarzlose, die hier ihr Zuhause fand, war mit den Eltern des Autors befreundet. Die knapp 10 Jahre dieser Familie in ihrer Unterkunft unter schwierigen Umständen ist Thema des Beitrags.

Ein Hochzeitszug auf dem Weg zur
Ein Hochzeitszug auf dem Weg zur "Insel Helgolnd". Auf der rechten Seite ist die Baracke der Familie Schwarzlose zu sehen.  Foto: Stadtteilzentrum Agathof e.V.

Der gelernte Dekorateur Carl Schwarzlose (+1913; †1989) und seine Frau Margarete (Gretel) Schwarzlose (*1918; †1979) kamen mit ihrem Sohn Peter (*1941; †2010) als Flüchtlinge aus dem Osten Deutschlands nach Kassel. Carl fand Arbeit als Kraftfahrer bei der amerikanischen Besatzungsmacht. Seine größte Sorge war es, im stark zerstörten Kassel ein Zuhause für sich und seine Familie zu finden. Als Organisationstalent gelang es ihm, bei seinem Arbeitgeber eine ehemalige Wehrmachtsbaracke zu erstehen.

Insel Helgoland am Inselweg
Die nach dem 2. Weltkrieg wieder aufgebaute "Insel Helgoland"  Foto: Stadtteilzentrum Agathof e.V.

Durch geschicktes Verhandeln und unterstützt von der behördlichen Wohnungsbewirtschaftung erhielt die Familie Schwarzlose von der Wirtsfamilie Leinweber die Genehmigung, auf der Fläche des ehemaligen Biergartens der „Insel Helgoland“ an der Losse ihre Baracke aufzustellen. Das Holzhaus war etwa 8 m x 5 m groß, eingeschossig mit Pappdach.
Durch einen angebauten Windfang betrat man den einzigen Wohnraum in dem auch gekocht wurde. Das bescheidene Schlafzimmer der Eltern wurde vom Wohnraum aus erschlossen. Die Kinder schliefen in einem winzigen Anbau dahinter. Die Baracke stand unmittelbar am Ufer der Losse und war bei Hochwasser stets in Gefahr überflutet zu werden. In den ersten Nachkriegsjahren wuchs die Familie durch die Geburt des zweiten Sohnes Klaus.

In dem kleinen Anbau in der Mitte des Bildes wohnte die Fam. Hofmann
In dem kleinen Anbau in der Mitte des Bildes wohnte die Fam. Hofmann  Foto: Stadtteilzentrum Agathof e.V.

In den Folgejahren kamen auch die Eltern von Gretel Schwarzlose, Bruno Hofmann mit Ehefrau, als Flüchtlinge nach Kassel. In einem kleinen Anbau mit einem einzigen Zimmer auf der Ostseite der Gastwirtschaft fanden auch sie ein Obdach. Bruno Hofmann arbeitete als Hausmeister und Heizer in der Privatklinik Dr. Koch.

Kinderboot hergestellt aus einem abgeworfenen Fluzeugersatztank.
Kinderboot hergestellt aus einem abgeworfenen Fluzeugersatztank.  Foto: Oberbayerisches Volksblatt GmbH & Co. Medienhaus KG.

Bald nach der Währungsreform, im Juni 1948, als sich die wirtschaftliche Lage für alle Deutschen besserte, leistete sich Carl Schwarzlose ein Motorrad mit Beiwagen. Damit in Urlaub zu fahren und als Camper sein Zelt aufzuschlagen machte er zu seinem Hobby. Peter und Klaus Schwarzlose, Bernd und Erhard Schaeffer sowie die Schwestern Marlies und Hannelore Leinweber spielten zusammen am Losseufer, wenn sich ihre Eltern zum Kartenspielen trafen. Eine besondere Attraktion war ein kleines Boot, das Vater Schwarzlose aus einem von den Alliierten während des Krieges abgeworfenen Flugzeug-Zusatztank gefertigt hatte. Unter Aufsicht der Eltern konnten die Kinder damit auf der Losse Kahn fahren.

Über das schneebedeckte Dach der Baracke hinweg sind die schlittschuhlaufenden Kinder zu sehen.
Über das schneebedeckte Dach der Baracke hinweg sind die schlittschuhlaufenden Kinder zu sehen.  Foto: Stadtteilzentrum Agathof e.V.

Wenn das Rückstaubecken am Wehr neben dem Dorfplatz und die aufgestaute Losse im Winter zugefroren waren, gingen die Bettenhäuser Kinder mit angeschnallten Schlittschuhen auf das Eis. Die seitlichen Krallen der Schlittschuhe lösten mit der Zeit die Sohlen von den teuren und damals schwer zu beschaffenden Schuhen. Die Schlittschuhe wurden auch „Schraubendampfer“ oder „Sohlenkiller“ genannt und waren deshalb bei den Eltern unbeliebt.

oben: Peter und Klaus Schwarzlose auf ihrem Schlitten. unten: Marlies und Hannelore Leinweber
oben: Peter und Klaus Schwarzlose auf ihrem Schlitten. unten: Marlies und Hannelore Leinweber  Foto: Marlies Stiller geb. Leinweber, Kassel

Anfang der 1950er Jahre zogen die Amerikaner ihre Einheiten aus Kassel ab, und die belgische Armee rückte als Besatzungsmacht nach. Im Stadtteil Wehlheiden entstand eine große, neue Siedlung für die belgischen Soldaten und ihre Familien. Carl Schwarzlose bewarb sich dort als Hausmeister und fand eine neue Anstellung mit Dienstwohnung. So zog die Familie Schwarzlose im Jahr 1954 in eine moderne Erdgeschosswohnung mit Bad in der Schopenhauerstraße 11. Geschäftstüchtig, wie gewohnt, hat Carl Schwarzlose die Baracke am Inselweg 2 über eine Kleinanzeige in der HNA verkauft. Ein gemütlicher Biergarten ist auf der nun freien Fläche neben der Gaststätte „Insel Helgoland“ nie wieder angelegt worden.

Gaststätte
Gaststätte "Insel Helgoland" nach Abbau der Baracke 1956  Foto: Stadtteilzentrum Agathof e.V.

Die langjährige Freundschaft zwischen den Familien Schwarzlose und Schaeffer endete erst mit dem tragischen Unfalltod von Gretel Schwarzlose in 1979. Carl Schwarzlose hat sich noch einige Jahre in den Wintermonaten als Dauercamper in Spanien aufgehalten, wo er im Jahr 1989 verstarb.

Text und Editor: Bernd Schaeffer, Januar 2021

Quellen:

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Ort: Inselweg

Kurzbeschreibung

Im Zweiten Weltkrieg wurden durch die Bombardierung der alliierten Fliegerverbände in Kassel etwa 80 Prozent aller Gebäude zerstört. Auch die Gaststätte „Insel Helgoland“ am Inselweg 2 wurde durch einen Volltreffer in der Nacht des 3. Oktobers 1943 vernichtet. Das Gastwirtsehepaar August und Gretel Leinweber errichtete unmittelbar nach Kriegsende an alter Stelle – zum Teil mit aufbereiteten Trümmersteinen- ein neues Gebäude mit stark veränderter Architektur. Wegen der existierenden Wohnungsnot mussten sie erlauben, dass auf der Fläche des ehemaligen Biergartens eine Baracke als vorübergehend Bleibe für eine vierköpfige Flüchtlingsfamilie aufgestellt wurde. Die aus dem Osten geflüchtete Familie Schwarzlose, die hier ihr Zuhause fand, war mit den Eltern des Autors befreundet. Die knapp 10 Jahre dieser Familie in ihrer Unterkunft unter schwierigen Umständen ist Thema des Beitrags.

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