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Flüssige Luft aus dem Sauerstoffwerk in der Forstfeldstraße

Ehemaliges Sauerstoffwerk in der Forstfeldstraße 2

Ehemaliges Sauerstoffwerk in der Forstfeldstraße 2
Foto: B. Schaeffer

Die Corona-Pandemie rückte 2020 die Verwendung des flüssigen Sauerstoffs in den Mittelpunkt der Nachrichten. Weltweit wurde die künstliche Beatmung von Schwerkranken mit Sauerstoff aus Flaschen von lebenserhaltender Bedeutung. Auf die Frage „Wie kommt der Sauerstoff aus der Luft (Erdatmosphäre) in die Stahlflache zur Behandlung der Patienten?“ gibt es eine wissenschaftliche und eine lokale Spur die nach Kassel führt. Dem in Kassel geborenen Dr. Ing. e.h. Ernst Wiss (*1870 +1945) gelang es 1901, Gase zu komprimieren und in hochdruckfeste Stahlflaschen abzufüllen. Er war es auch, der seinen Arbeitgeber, die Chemische Fabrik „Griesheim-Elektron“, 1921 dazu brachte, in Kassel-Bettenhausen an der Forstfeldstraße 2 ein Sauerstoffwerk zu errichten. Dort wurde über 50 Jahre lang durch Rektifikation Sauerstoff hergestellt und abgefüllt. Nach Einstellung der Produktion in den 1970er Jahren existierte in der Forstfeldstraße 2 noch einige Jahre ein Handel mit Industriegasen in der Verantwortung verschiedener Firmen.

Im Jahr 1895 entwickelte der Ingenieur und Erfinder Carl von Linde (*1842 +1934) eine Methode zur Gastrennung (durch Rektifikation), das nach ihm benannte „Linde-Verfahren“. Damit wurde es möglich aus Luft, einem Gasgemisch der Erdatmosphäre, größeren Mengen Sauerstoff zu trennen und zu verflüssigen.

Prinzip der Herstellung von fluessigem Sauerstoff (Linde-Verfahren)
Prinzip der Herstellung von flüssigem Sauerstoff (Linde-Verfahren)  Foto: https://heureka-stories.de/1895-die-luftverfluessigung/2-uncategorised/49-die-luftverfluessigung-die-ganze-geschichte.html

Schon 1856 hatte der Chemiker Ludwig Baist an der Grenze zu Frankfurt a. M. in Griesheim die „Frankfurter Actiengesellschaft für landwirtschaftlich-chemische Fabrikate“ gegründet. In dieser Firma wurden Kunstdünger, Schwefel- und Salpetersäure sowie Soda hergestellt.
Im Jahr 1863 erhielt das Unternehmen den Namen „Chemische Fabrik Griesheim am Main“ und die Produktion von Teerfarbstoffen wurde aufgenommen. Eine Tochtergesellschaft, die „Griesheim Elektron“, produzierte ab 1894 Graphitelektroden, die vor allem in der Schweißtechnik, in Kohlebogenlampen, in der Stahlindustrie und zur Aluminiumherstellung Verwendung fanden.

Dr. Ing. e.h. Ernst Wiss, 1903
Dr. Ing. e.h. Ernst Wiss, 1903  Foto: Gesamtkatalog der Messer Cutting Systems GmbH, Die Messer Welt, Ausgabe 2017, S. 28

Der Ing. Ernst Wiss, Mitarbeiter von „Griesheim-Elektron“, der für komprimierten Wasserstoff neue Anwendungsmöglichkeiten suchte, stieß auf eine Erfindung von Bernhard Dräger in Lübeck, der 1896 den „Dräger Knallgas-Schweißbrenner“ erfunden hatte. Zwischen dem Drägerwerk und „Griesheim-Elektron“ kam es zu einer Kooperation auf dem Gebiet der autogenen Schweißtechnik. Dräger produzierte die Schweißtechnik und „Griesheim-Elektron“ vertrieb diese, außerdem entwickelte sich eine Zusammenarbeit für die Versuche auf dem Gebiet der autogenen Metallbearbeitung.
1903 konstruierte der in Kassel geborene Ingenieur Ernst Wiss bei „Griesheim-Elektron“ den ersten Wasserstoff-Sauerstoff-Schneidbrenner nachdem kurz zuvor schon die Technik entwickelt hatte, flüssigen Sauerstoff in hochdruckfesten Stahlflaschen zu transportieren. Es folgten Geräte und Maschinen für die autogene Schweiß- und Schneidtechnik. Der zunehmende Bedarf an flüssigen Sauerstoff für die neuen Techniken führte 1908 zur Inbetriebnahme des ersten Sauerstoffwerkes durch die Chemische Fabrik „Griesheim-Elektron“.
Flüssigsauerstoff diente auch zur Herstellung von Sprengstoffen („Oxyliquit“). Daraus erklärt sich, dass „Griesheim-Elektron“ im Ersten Weltkrieg einer der größten Sprengstofflieferanten der deutschen Armee war.

Firmengelände des Sauerstoffwerks in der Forstfeldstraße
Firmengelände des Sauerstoffwerks in der Forstfeldstraße  Foto: Karte der Stadt Kassel 1943

Nach dem Ersten Weltkrieg stieg die Nachfrage nach flüssigem Sauerstoff für die zivile Nutzung z. B. für die Medizintechnik und die autogene Metallbearbeitung. Durch die Initiative des o.g. Ing. Ernst Wiss und mit Hilfe des damaligen Oberbürgermeister Philipp Scheidemann wurde 1921 in Kassel ein modernes Sauerstoffwerk errichtet. Wegen der vorhandenen Infrastruktur, z.B. ein Zugang zu den Gleisen der „Cassel-Waldkappeler-Eisenbahn“, fiel die Wahl für das Betriebsgelände auf das Grundstück in der Forstfeldstraße 2.

Werbung der Zweigstelle Kassel 1925
Werbung der Zweigstelle Kassel 1925  Foto: Adressbuch der Stadt Kassel 1925

In der Folge der Weltwirtschaftskrise sank die industrielle Produktion erheblich und brachte die Fa. „Griesheim-Elektron“ in finanzielle Schwierigkeiten und 1925 übernahm die „I. G. Farbenindustrie AG“ die Mehrheit der Firmenanteile.
Im Kassler Adressbuch von 1927 ist die Niederlassung an der Forstfeldstraße 2 auf den Namen der „Vereinigten Sauerstoffwerke Berlin GmbH Zweigstelle Kassel“ eigetragen.

Sauerstoffflaschen in einer Holzkiste
Sauerstoffflaschen in einer Holzkiste  Foto: https://wellcomecollection.org/works/fqwztxnk

Flüssiger Sauerstoff war auch ein wesentlicher Bestandteil des Raketenbrennstoffs für den pilotenlose Flugkörper Fi 103, so der offizielle Name der V1, welcher in der Firma Fieseler in der Lilienthalstraße entwickelt wurde. Auf dem Gelände der Heeresversuchsanstalt für V-Waffen in Peenemünde wurde zwischen 1940 und 1943 das zur damaligen Zeit größte Sauerstoffwerk zur Produktion flüssigen Sauerstoffs errichtet. Die verwahrlosten Gebäuderuinen sind bis in die heutige Zeit erhalten geblieben.
Nach dem Zweiten Weltkrieg mit Beginn des Wideraufbaus und der Trümmerbeseitigung wurde Anfang der 1950er Jahre die Produktion von Sauerstoff auch in Kassel wieder aufgenommen. Für den Betrieb von Schneidbrennern und Schweißgeräten wurden die notwendigen Gase Acetylen und Sauerstoff dringend gebraucht und von der Forstfeldstraße aus vertrieben.
1965 fusionierte die „Adolf Messer GmbH“ Rechtsnachfolger der „Griesheim-Elektron“ mit der „Knapsack Griesheim AG“ zur „Messer Griesheim GmbH“, an der die Farbwerke Hoechst mit zwei Dritteln und die Familie Messer mit einem Drittel beteiligt war. Die Firmenbezeichnung „Messer Griesheim“ zierte lange Zeit die Gebäude an der Forstfeldstraße 2. Schwerpunkt der Geschäftstätigkeit war der Bereich Industriegase, zu denen auch Sauerstoff gehörte. Wenn man in den 1960er Jahren das Werksgelände an der Ochshäuser Straße passierte, waren die Erschütterung und das tiefe Wummern, welches von den großen Kompressoren ausging, deutlich wahrzunehmen.

Verwalrungsgebäude des ehemaligen Sauerstoffwerks Messer Griesheim
Verwalrungsgebäude des ehemaligen Sauerstoffwerks Messer Griesheim  Foto: B. Schaeffer, Kassel

Ab 1978 war die Niederlassung in der Forstfeldstraße nur noch Abfüllstation und Vertriebsstelle für Industriegase.
Die Niederlassung der Messer Griesheim GmbH in der Forstfeldstraße 2 erregte in 1994 das Interesse der in unmittelbarer Nachbarschaft lebenden Bevölkerung. Durch eine Umstellung des Vertriebssystems sollte auf dem Firmengelände Flaschen aus großen Druckgasbehältern mit explosiven Gasen befüllt werden. In einer gemeinsamen Sitzung der beiden Ortsbeiräte Bettenhausen und Forstfeld wurde bemängelt, dass die vom Regierungspräsidenten erlassenen Auflagen zum Betrieb der Abfüllanlage nicht vollständig erfüllt würden. Im Mittelpunkt stand die Befürchtung, dass das Firmengelände vor allem in den Nachtstunden nicht ausreichend gegen Missbrauch gesichert sei. Die Firmenleitung versprach Abhilfe durch eine widerstandsfähige Umzäunung.
Im Zuge der Umbaumaßnahmen wurde auch der Industriegleisanschluss an der Südwestseite des Firmengeländes demontiert.
Nachdem in den folgenden Jahren die Eigentümer mehrfach gewechselt hatten, übernahm in 2003 der französische Weltmarktführer für Industriegase, die Air Liquide SA, die Niederlassung Kassel. Der Firmenstandort in der Forstfeldstraße wurde aufgegeben und nach Kaufungen-Papierfabrik verlegt.
Bei einer Neuordnung des Vertriebsnetzes überließ die Air Liquid AG in 2018 den Auslieferungsstandort für Techn. Gase in Kaufungen der Fa. Schwanteland GmbH mit Sitz in Oberkrämer/OT Vehlefanz bei Neuruppin.
Auf dem Firmengelände des ehemaligen Sauerstoffwerkes in der Forstfeldstraße 2 ist heute (2022) die Autowerkstatt „Schumis Garage“ werksansässig.

Text und Editor: Bernd Schaeffer, Januar 2022

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Die Corona-Pandemie rückte 2020 die Verwendung des flüssigen Sauerstoffs in den Mittelpunkt der Nachrichten. Weltweit wurde die künstliche Beatmung von Schwerkranken mit Sauerstoff aus Flaschen von lebenserhaltender Bedeutung. Auf die Frage „Wie kommt der Sauerstoff aus der Luft (Erdatmosphäre) in die Stahlflache zur Behandlung der Patienten?“ gibt es eine wissenschaftliche und eine lokale Spur die nach Kassel führt. Dem in Kassel geborenen Dr. Ing. e.h. Ernst Wiss (*1870 +1945) gelang es 1901, Gase zu komprimieren und in hochdruckfeste Stahlflaschen abzufüllen. Er war es auch, der seinen Arbeitgeber, die Chemische Fabrik „Griesheim-Elektron“, 1921 dazu brachte, in Kassel-Bettenhausen an der Forstfeldstraße 2 ein Sauerstoffwerk zu errichten. Dort wurde über 50 Jahre lang durch Rektifikation Sauerstoff hergestellt und abgefüllt. Nach Einstellung der Produktion in den 1970er Jahren existierte in der Forstfeldstraße 2 noch einige Jahre ein Handel mit Industriegasen in der Verantwortung verschiedener Firmen.

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